256 Kilometer in der Stunde, danach Explosion / Neue Versuche verboten

Die Bauarbeiter scheinen beim Bau der Bahnstrecke von Hannover über Langenhagen nach Celle sorgfältig gearbeitet zu haben; denn 1928 wählte der Autoindustrielle Fritz von Opel die Strecke Isernhagen-Burgwedel für seinen Versuch, den Geschwindigkeitsrekord auf der Versuchsstrecke AVUS in Berlin mit einem raketenbetriebenen Schienenwagen zu brechen.

Von Matthias Blazek

Unter von Opels Leitung wurde im Frühjahr 1928 das erste deutsche Raketenauto gebaut. Dieses Fahrzeug machte am 11. April 1928 auf der Opel-Rennbahn in Rüsselsheim seine erste Fahrt, wobei es, mit Konstrukteur und Rennfahrer Kurt Volkhart am Steuer, in acht Sekunden eine Geschwindigkeit von 100 Kilometern in der Stunde erreichte. Dieser Versuch stellte erstmals unter Beweis, dass man Fahrzeuge mittels Raketen beschleunigen und antreiben konnte. In den folgenden Monaten liefen noch mehrere Experimente dieser Art (auf der AVUS zum Beispiel), zuerst unbemannt, später, nachdem ein größerer Sicherheitsfaktor entwickelt worden war, auch bemannt.

So konnte die deutsche Bevölkerung sogar in allernächster Nähe Zeuge von Raketenfahrzeugversuchen sein. Am 23. Mai 1928 stellte Fritz von Opel auf der AVUS mit 238 Stundenkilometern einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. Vor 3000 geladenen Gästen steuerte der Enkel des Firmengründers Adam Opel das „Opel-Sander-Raketenwagen 2“ (RAK 2) genannte Fahrzeug. Es ähnelte einer schwarz lackierten Zigarre und war immerhin fünf Meter lang. Zwei gewaltige Flügel sollten den errechneten Auftrieb kompensieren und ein Abheben des Fahrzeugs verhindern. 24 Pulverraketen mit insgesamt 120 Kilogramm Sprengstoff katapultierten den RAK 2 mit einem langen Feuer- und Rauchschweif nach vorne. Mit jedem Tritt aufs Gaspedal zündete von Opel die nächste Stufe des Antriebs und erreichte die damalige Rekordgeschwindigkeit von 238 Stundenkilometern.

Fritz von Opel und Ing. Sander am Rak III 1928Das Tempo seines zweiten Entwicklungsmodells reichte dem Raketenpionier nicht, der sich in den Kopf gesetzt hatte, den sicheren Boden zu verlassen und dafür lieber in die Luft zu gehen. Gleich nach dem umjubelten Erfolg kündigte von Opel oder Raketen-Fritz, wie er auch genannt wurde, weitere Raketenversuche auf der Schiene und in der Luft an. Er konstruierte „RAK 3“, ein Schienenauto mit Strahlantrieb, mit dem er den bestehenden Schienenrekord brechen wollte. Den nötigen Schub von 2750 Kilogramm wollte er von insgesamt zehn Raketen beziehen.

Zu diesem Zweck stellte ihm die Reichsbahn die jetzt so betitelte und seit einem Jahr befahrbare Schnellbahnversuchsstrecke bei Burgwedel zur Verfügung. Schon Tage vorher wurde dieses Vorhaben mit fetten Schlagzeilen in den Zeitungen angekündigt.

Zweimal raste der RAK 3 am 23. Juni 1928 in Anwesenheit von Opels auf den Schienen der Hasenbahn vom Bahnhof Burgwedel in Richtung Celle. Beim zweiten Versuch, zu dem um 14.30 Uhr der Startschuss fiel, knackte der unbemannte rote Wagen mit Raketenantrieb auf der drei Kilometer langen Strecke den Rekord mit 256 Kilometern pro Stunde in Höhe Kleinburgwedels. Nachdem der Wagen aber wenig später mitsamt einer Katze explodiert war, wurde der nächste Start auf den 3. August 1928 festgelegt. Die Gemeindeverwaltung verbot den Test wegen Sicherheitsbedenken. So lautet die offizielle Version.

Unter dem Titel „Die Fahrt des Raketen-Wagens bei Kleinburgwedel – Der zweite Start missglückt – Der Wagen aus den Schienen geschleudert“ berichtete der Hannoversche Anzeiger vom 25. Juni 1928 ausführlich über das Ereignis. Nach dem großartigen Schauspiel des ersten Starts sei das Interesse der gewaltigen Zuschauermenge auf das Höchste gestiegen. Mit Spannung hätten die Menschen auf den weiteren Versuch gewartet, der mit verstärkten Ladungen vorgenommen wurde. Schließlich kündete eine abgefeuerte Rakete den unmittelbar bevorstehenden zweiten Start an. „Und dann brüllt und kracht es los! Eine gigantische weiße Rauchwolke steigt hoch, aus der nach allen Richtungen Feuergarben schießen. Aus! Stille!“, vermerkt der Anzeiger. Dann konnten die Zuschauer auf der einen Seite der Schienen das Fahrgestell, auf der anderen Seite den Raketensatz sehen, der wahrscheinlich wegen der zu starken Ladung – das Vierfache der ersten – herausgeschleudert wurde. „Der zweite Versuch ist also missglückt“, notierte der Reporter. Menschen seien aber Gott sei Dank nicht zu Schaden gekommen. Hatte die Absperrmannschaft vor dem Start die Menschenmenge noch in sicherer Entfernung halten können, so gelang dies nach dem Unglück nicht mehr. In Scharen sei die Menge herangedrängt, um sich den verunglückten Wagen anzusehen. „Die Absperrungsmannschaften waren einem solchen Andrang gegenüber machtlos“, berichtet der Anzeiger weiter. Zu sehen gab es aber nichts mehr: Der entgleiste Wagen war bereits mit einer Zeltbahn abgedeckt worden.

23. Juni 1928Man hatte die Katze hineingesetzt, um auszuprobieren, ob sie den erwarteten Druck des Antriebsatzes aushalten würde. Die Cellesche Zeitung berichtete: „Eine Katze als Passagier. Sie wird unter einigem Protest in einem Behälter auf dem Führersitz verstaut. Sie scheint sich der Ehre, hier als Schrittmacher der Menschheit zu diesen, die sie neben den Hahn und den Hammel Montgolfiers stellt, nicht nach Gebühr zu würdigen. Ihr ist sichtlich wenig an der Feststellung, ob der tierische Organismus eine Geschwindigkeit von 400 Stundenkilometer erträgt, gelegen.“

Kurz nach dem Startschuss zerbarst ihr Fahrzeug „mit einer gewaltigen Explosion, die eines wohlassortierten Munitionslagers würdig ist“.

Die Ortschaft Kleinburgwedel beispielsweise erlebte den größten Menschenauflauf in ihrer Geschichte. Das „Burgdorfer Kreisblatt“ schrieb zwei Tage später: „Man schätzt die Zahl der Zuschauer auf mindestens 20000 und die Zahl der Kraftfahrzeuge auf rund 2000 bis 3000. Aus Klein-Burgwedel war für einige Tage Groß-Berlin geworden.“

Ein paar Wochen später, am 4. August 1928, wurde auf der Strecke Celle-Burgwedel ein neuer Versuch mit diesen Schienenwagen unternommen. Die Vorbereitungen hatte man in aller Stille getroffen, um die Öffentlichkeit wegen der erheblichen Gefahren vollkommen auszuschließen. Aber Gerüchte und Nachrichten hatten sich im letzten Augenblick doch noch herumgesprochen. Diese Menschenansammlung verzögerte den Start von RAK 4 erheblich und verhindert den von RAK 5 schließlich ganz. RAK 4 wurde bei einer gewaltigen Explosion an jenem Tag zerstört.

Die Verzögerung kam aber auch noch durch ein anderes Ereignis zustande.

Längs den Schienen waren elektrische Kontakte für die Zeitmessung angebracht worden, und die Strecke war beiderseitig am oberen Rand der Böschung von Polizei und Feuerwehr abgesperrt. Dann wurde das Startsignal gegeben. Und just in diesem Moment drängte sich eine schwarz gekleidete Gestalt durch die Reihen der Zuschauer, lief die Böschung herunter auf die Gleise zu, nahm Hut und Brille ab, kniete nieder und legte den Kopf auf die Schienen. Ein Raunen ging durch die Menge, ein Selbstmörder! Zwei Polizisten kamen angerannt, rissen den Mann zurück, und in derselben Sekunde flog der Raketenwagen vorbei. Und wer war der vermeintliche Selbstmörder? Ein völlig kurzsichtiger Professor, der die Oberaufsicht über die Zeitnahme führte und der mit der Sorgfalt eines echten deutschen Professors bloß noch einmal sehen wollte, ob die Schienenkontakte gut angebracht waren …

Kurz nach diesem Ereignis erfolgte durch fehlerhafte Zusammensetzung der Raketen und Kurzschluss eine starke Explosion, die den Wagen 15 Meter in die Luft schleuderte und ihn schließlich viele Meter entfernt auf das Gleis fallen ließ. Auf diese Versuche hatte man eigentlich große Hoffnungen gesetzt, 500, vielleicht sogar 600 Stundenkilometer, so dachte man im Stillen. Aber Fritz von Opel blieb weiterhin optimistisch. Seiner Ansicht nach hätten Versuche mit einem Raketenchauffeur, der die Zündung reguliere, weit größere Aussicht auf Erfolg. „Wir werden bald mit neuen Erfindungen ganz anders an die Sache herangehen können wie bisher. Dies alles ist keine Spielerei, sondern eine wichtige Hilfe für die technische Entwicklung. Wir arbeiten weiter, aber wir werden bei den kommenden Versuchen schärfere Absperrungen vornehmen.“ Der Forschergeist Fritz von Opels ließ sich nicht entmutigen. Schon im November 1928 wurden die Raketenversuche auf der Berliner AVUS fortgesetzt. Geplante Versuche mit einem raketengetriebenen Opel-Motoclub-Motorrad wurden von den Behörden allerdings untersagt.

[Quelle: Beitrag von Annegret Meyer im Heimatkalender für die Lüneburger Heide 1975, S. 57 ff.]

Beim RAK 3 und RAK 4, die „granatenähnlich“ aussahen, wie die Hamburger Nachrichten damals schrieben, und auf gut fünf Meter langen Lafetten befestigt waren, handelte es sich wahrscheinlich um die letzten Raketenfahrzeuge, die auf Schienen fuhren. Ein Jahr später, am 30. September 1929, verließ Fritz von Opel tatsächlich dann den Erdboden und ging in die Luft. Auf dem damaligen Frankfurter Flughafen, Frankfurt-Rebstock, erreichte er als Pilot der ersten bemannten Rakete (Opel-Sander-RAK-1-Flugzeug) eine Höhe von 20 bis 30 Metern, wurde 150 Stundenkilometer schnell und legte in 80 Sekunden knapp zwei Kilometer zurück. „Damit war der erste öffentliche Raketenflug in der Luftfahrtgeschichte perfekt“, schwärmten die Verfasser der Opel-Geschichte.

Von Opels Wegbegleiter waren der Konstrukteur Ingenieur Friedrich Wilhelm Sander aus Wesermünde und der Privatforscher Max Valier. Valier hatte ab 1913 Astronomie, Meteorologie, Mathematik und Physik in Innsbruck studiert. Nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte er 1924 das Buch „Der Vorstoß in den Weltenraum“, in dem ein Programm zur Entwicklung der Raketentechnik beschrieben ist. Ab 1928 baute Valier mit Fritz von Opel Raketenwagen, die mit Feststoffraketen betrieben wurden. Später folgten Flüssigtreibstoffraketen. 1930 starb Valier bei einem Probelauf.

Zu dem ursprünglich geplanten Flug Fritz von Opels über den Ärmelkanal kam es nicht mehr. Seine Raketenversuche endeten im Herbst 1929. Aber die Verwirklichung seiner Träume und Visionen konnte von Opel, der am 8. März 1971 in St. Moritz starb, noch erleben. Im August 1939 hob das erste serientaugliche Düsenflugzeug der Welt vom Boden ab, die Heinkel HE 178. Der Russe Juri Gagarin stieß als erster Mensch am 12. April 1961 in den Weltraum vor, und Neil Armstrong betrat am 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond.

Literaturempfehlung:

Projekt RAK – Das Raketenzeitalter begann in Rüsselsheim, eine Dokumentation von Klaus F. Filthaut, München 1999, 244 Seiten

Von Opel und Ingenieur Sander am RAK 3 am 23. Juni 1928. Foto: Opel Classic Archiv
Raketen-Schienenfahrzeug RAK 3 am 23. Juni 1928. Foto: Opel Classic Archiv


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